Kinderhandel am globalen Markt

Von Redaktion · · 2008/03

In Lateinamerika boomt eine neue Art von Verbrechen: der Raub von Kindern. Es existiert eine regelrechte Industrie für Pädophilie. Sergio Mendoza Castro aus Bogotá

Ein tragisches Ende fand ein Entführungsfall am 14. Juni 2007 in Chiquimula – der liebevoll „Perle des Orients“ genannten Provinz Guatemalas. Die verschlafene Kleinstadt Camotán, die es für einen Augenblick in die Medien schaffte, sucht nach Klarheit über das Schicksal der achtjährigen Michelle, mehrfache Gewinnerin von Kinder-Schönheitswettbewerben, welche zwei Tage vor ihrem neunten Geburtstag nicht mehr nach Hause kam. Bestialisch ermordet entdeckten sie ihr Onkel und Cousin. Die Kinderleiche war zerstückelt, es fehlten der rechte Arm, Muskeln im Brustbereich und ihre Augen. Im Ort kursierten die Namen dreier Schwestern, welche mit dem Verschwinden Michelles in Verbindung gebracht wurden. Mariana I. (33) war zu diesem Zeitpunkt im vierten Monat schwanger. Nachdem man ihr einen Finger abhackte, gestand sie, dass man ihr 1.000 Quétzal (umgerechnet knapp 100 Euro) dafür gegeben hatte, das Mädchen zu entführen. Augenblicke später steinigte sie der wütende Mob. Eine Schwester übergossen sie mit Benzin, nur mit Glück überlebte sie mit schweren Brandwunden.
Norma Cruz, Leiterin der guatemaltekischen Nichtregierungsorganisation „Sobrevivientes“ (Überlebende), spricht von einer „neuen Verbrechensart“. Der Raub von Kindern „explodiere“. Es gebe 50 Fälle im Monat, die zur Anzeige gebracht werden. Cruz, die davon ausgeht, dass nur ein „Bruchteil“ der Fälle überhaupt der Polizei bekannt gegeben werden, beschreibt ein sich wiederholendes Schema: Pick-ups durchkämmen die Dörfer, locken Kinder zu den Autos und schnappen sie. Die verantwortlichen „Branchen“, meint Cruz, sind Kinderpornografie, Organhandel, illegale Adoption – und vielleicht auch satanistische Rituale.
Es verdichten sich die Hinweise, dass „mafiaartige“ Organisationen „Kinder wie Kokain schmuggeln“ würden, sagt Cruz, bedacht leise.

UNO-Schätzungen zufolge beträgt die Zahl der zur Prostitution gezwungenen Minderjährigen eine Million. Abermillionen von Dateien pädophilen Inhalts werden jährlich beschlagnahmt, Tendenz steigend. Und es sind Bürger der reichen Länder, die entweder reisend oder downloadend auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft ihre sexuellen Perversionen befriedigen.
Die weltweite Empörung über sexuelle Ausbeutung von Kindern bleibt aus. Erwirtschaftet werden mit dem Leid der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft laut Interpol zwölf Mrd. Euro, und das jährlich. Kinderhandel mit dem Ziel, pädophile Perversionen zu befriedigen, ist eine versteckt-vernetzte „Boombranche“ geworden, welche sich an der Nachfrage von Hunderttausenden – meist Männern – weltweit orientiert. Die deutsche Nichtregierungsorganisation Terre des Hommes schätzt, dass bis zu 100.000 Kinder weltweit verkauft würden. Monatlich.
Verkaufte Kinder landen im besten Fall bei einer liebevollen Pflegefamilie, doch werden sie ebenso als ArbeitssklavInnen eingesetzt. Im schlimmsten Falle landen sie in der Zwangsprostitution oder der Produktion von Kinderpornografie, deren grausames Spektrum bis zur „Snuff-Päderastie“ reicht, was bedeutet, dass das Kind vor laufender Kamera ermordet wird.

Der touristische Aspekt sexuellen Missbrauchs von Kindern ist weltumspannend, sei es in Mittelamerikas Häfen, wo Kreuzfahrtschiffe andocken, seien es minderjährige Prostituierte, welche sich in den Gassen der Megastädte Afrikas anbieten, oder per E-Mail „georderter“ Sex mit osteuropäischen Kindern.
Verlässliche Zahlen zu den Opfern gibt es keine, wie auch Mechtild Maurer, die Leiterin der Deutschen Sektion von Ecpat, der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung, im Dezember gegenüber der Berliner Tageszeitung taz meinte, aber: „Man geht von Millionen aus, die diese Erfahrung machen.“
Geschätzte 20.000 bis 40.000 Männer aus Deutschland suchen alljährlich im Ausland Sex mit Kindern. Im Gegensatz hierzu stehen knapp 20 Strafverfahren wegen dieses Deliktes in Deutschland.
Pädophile informieren sich untereinander in den Untiefen des Internets – wie die holländische Päderasten-Vereinigung „Martinj“, wo hinter dem scheinbaren Download von „World of Warcraft“-Spielteilen im Stile eines Forums reger Austausch über die geltende Rechtslage in den Zielstaaten betrieben wird.
Ihren Ursprung habe die einschlägige Industrie im Thailand der 1950er Jahre mit dem Entstehen des Massentourismus, meint Maria Jackeline Leite de Souza, Leiterin von „Chame“, einer Organisation zum Schutz der Frauenrechte in Brasilien. „Dann suchten die Täter neue Ziele, darunter schon früh die Dominikanische Republik und Brasilien.“ Und die Seuche breitete sich dann weiter in Lateinamerika aus.
Victoria de León, Generalstaatsanwältin, sieht die Zahl der Kinder aus El Salvador, die via Guatemala in Richtung USA geschleust werden, im Steigen begriffen. Wobei sie mehr von „illegaler Adoption“ als von Pädophilie spricht. „Doch auch Organhandel spielt eine Rolle.“
Am 5. Februar hätte der Prozess im Fall „Michelle“ beginnen sollen, doch wurde er kruzfristig verschoben – ohne neuen Termin. Norma Cruz von „Sobrevivientes“ hält den Prozess für sehr wichtig, ist er doch einer der wenigen, wo die – mit großer Wahrscheinlichkeit – materiellen Täter des Verbrechens vor Gericht stehen.

Europa und die USA als Markt: Bereits im Jahr 2002 verfassten Beatriz Elena di Filippo Echeverry und Ximena Monroy Prada an der Jesuiten-Universität von Bogotá in Kolumbien eine umfangreiche Dissertation mit dem Titel: „Die sexuelle Ausbeutung in der Kindheit und Jugend in Kolumbien“. Darin sprechen die beiden Juristinnen ebenso vom „Entstehen einer regelrechten Industrie“, begünstigt durch neue Kommunikationsmittel, und von „gängigen Reiserouten“ der entführten Kinder. Ausgehend von Bogotá via Caracas nach Madrid, via São Paolo oder Buenos Aires nach Frankfurt.
Der Jahresbericht der kolumbianischen Polizei hatte schon zwei Jahre zuvor dieses Faktum erwähnt, doch Folgen gab es keine. Korruption und hochwertige Dokumentenfälschungen vereinfachen das Unterfangen der „Händler“.
Sollte es dennoch zu Anklagen kommen, so zeigt sich auf beiden Seiten des Atlantiks dasselbe Problem. „Kindern wird generell wenig Glauben geschenkt“, beklagt Sexualpsychologin Esperanza Casals Campos aus dem spanischen Valencia. Ihr sei „alles untergekommen“, meint sie: Kinder, die unter Drogen gesetzt werden, bevor man sie misshandelt, Aufzeichnungen mit Videokameras und digitalen Fotoapparaten. Vor Gericht verlange man zumeist ein psychologisches Gutachten des Kindes, das stets weniger zähle als die Aussage eines Erwachsenen.

Die einschlägigen „Marken“ von Kinderporno-Filmfirmen Südamerikas sind international vernetzt, nur so ist großes Geld zu machen. Die kolumbianische Produktionsfirma Toro Bravo hatte enge Kontakte nach Zentralfrankreich. Genauer gesagt ins Dörfchen Saint-Léger des Vignes, wo Nicolas Glencross seine „Basis“ errichtet hatte, unterstützt vom ultrarechten Michel Caignet und einem gewissen Bernard Alapetite, der zwar einvernommen, aber nicht verurteilt wurde. Sie bedienten sich an aus Südamerika adoptierten Kindern, zumeist aus Kolumbien und Peru. Universitätsprofessor Jean Manuel Vuillaume unterhielt mehrere Hotels, die auch als „Kulisse“ für die pädophilen Filme dienten, unter anderem in Bogotá und in Thailand.
Filme wurden damals, in den 1990er Jahren, um 800 Francs pro Stück angeboten, heute gehen die Preise, je nach Perversion des Inhalts, in die Tausende von Euros für Snuff-Pädophilie.
Während in Europa zwar Meldungen über brutale Kindsmorde die Medien streifen, vernetzt man diese Informationen kaum mit den Razzien gegen Pädophile. Wenn ein Grundschullehrer in Nordspanien verhaftet wird, der mehr als 20 Millionen Kinderporno-Dateien gespeichert hat – so geschehen im Sommer 2007 – liegt doch die Frage nahe: „Woher kommt das Material?“

Was fehlt, sind wirksame Gesetze zum Schutz der Kinder, zur Verfolgung der Täter, ein angemessener, auszuschöpfender Strafrahmen und eine weltweit vernetzte Datenbank mit den Namen und wo möglich den Fotos der Vermissten, wie sie in den USA existiert. Internationale Vernetzung der Exekutive sowie der Nichtregierungsorganisationen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Auch dank Kampagnen und der Mithilfe von besorgten BürgerInnen konnte die Plattform „Verschwundene Lateinamerikaner“ erste Erfolge erzielen: Es werden bislang „verschwundene“ Kinder lebend gefunden. Doch in den USA wird in einschlägigen pädophilen Foren weiterhin über „Kinderhaut zu 15 Dollar“ in Mexiko debattiert.

Sergio Mendoza Castro lebt und arbeitet als Freelancer für lokale Printmedien und Radiosender in der kolumbianischen Hauptstadt. Er studierte Journalismus in Bogotá, im spanischen Valencia und in Berlin.

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